Schlagwörter
Guten Abend, heute wurde es wieder etwas später aber dafür gehe ich hochmotiviert ans Werk. Ich habe den ganzen Tag gelernt (+hust+ .. über Produktivität lässt sich streiten, aber die Lautwandelverschiebung hab ich jetzt komplett durch!) und im laufe der letzten Woche wieder genug Texte für die nächsten Wochen gesammelt, sodass ich nicht in die Bedrängnis komme ständig Songtexte zu analysieren. Versteht mich nicht falsch, das macht sehr viel Spaß und die meisten beeindruckenden Texte sind nun mal vertonte, aber irgendwie empfinde ich es als langweilig ständig Lieder oder Gedichte zu machen.
Heute ist der Name des Werks nicht im Titel, wie euch aufgefallen sein mag. Das liegt vor allem daran, dass dann der Titel verdammt lang geworden wäre. Es handelt sich nämlich um:
„Das Märchen der Großmutter“ aus Woyzeck von Georg Büchner
Nachzulesen ist die Szene im ‚Woyzeck‘ von Georg Büchner. In der Ausgabe Reclam von 1980 ist es Seite 23 Szene ‚Strasse‘, 2005 ist es Seite 32 Szene 19 „Marie mit Mädchen vor der Haustür“. Ich nutze hier die Ausgabe von 1980, warum erläutere ich später.
Großmutter. Kommt, ihr kleinen Krabben! – Es war einmal ein arm Kind und hatt kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonnebnlum. Und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie’s dieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürtzer Hafen. Und es war ganz allein, und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.
‚Woyzeck‘ von Georg Büchner ist ein nur in Fragmenten überliefertes Drama welches wahrscheinlich im Sommer 1836 zu entstehen begann. Leider blieb das Werk unvollendet durch den frühen Tod des Autors im Jahr 1837. Das weitaus größere literaturwissenschaftliche Problem ist jedoch, dass die Einzelteile nicht sortiert sind. Überliefert ist das Manuskript in mehreren Entwurfsstadien, teilweise sind Szenen voll ausformuliert, manchmal ist es kaum mehr als eine Notiz. Erstmals veröffentlicht wurde es 1879 und seither vielfach überarbeitet. Die letzte Fassung ist 2009 im Hamburger Leseheft Verlag erschienen. Die verschiedenen Editionen variieren stark in Formatierung, Reihenfolge der Szenen und teilweise auch im Wortlaut. Grundsätzlich ist keine der Versionen autorisiert da Büchner eigentlich verboten hat, dass nach seinem Tod weitere Werke von ihm veröffentlicht werden. Sein Nachlassverwalter hat jedoch nach und nach alle seine privaten Aufzeichnungen wie zum Beispiel Briefe und Notizen veröffentlicht. Ich habe mich für die 1980er Ausgabe von Reclam entschieden weil ich sie von der Reihenfolge her als sinnvoller empfinde als die 2005er. Außerdem unterscheidet sich der Wortlaut des Märchens stellenweise, stimmt aber mit der 2009er Ausgabe des Hamburger Leseheftes überein.
Woyzeck ist ein einfacher Soldat der sich als Laufbursche für den Hauptmann verdingt um etwas Geld extra für sein uneheliches Kind und seine Freundin Marie zu verdienen. Zusätzlich lässt er sich, um seinen mageren Sold weiter aufzubessern, von einem skrupellosen Arzt auf eine absolute Erbsendiät setzen. Neben der psychischen und physischen Schinderei erniedrigen sie ihn in der Öffentlichkeit und ergötzen sich an seinem Leid. Dass Woyzeck psychisch nicht ganz auf der Linie läuft wird schon in der ersten Szene klar, als er meint, die Freimaurer greifen an. Im Laufe des Dramas nimmt seine Verunsicherung und die psychische Labilität weiter zu. Unter anderem wird in ihm der Verdacht geweckt, zwischen dem Tambourmajor und seiner Geliebten laufe etwas, was sich später bestätigt. Zwar weißt Marie ihn zuerst ab, gibt aber schließlich seinen Avancen doch nach. Im Zweikampf unterliegt Woyzeck. Stimmen beginnen ihm einzuflüstern, er solle Marie töten, seine Versuche sich seinem Freund Andres anzuvertrauen scheitern an dessen Ignoranz. Schließlich kauft er sich ein Messer, da sein Geld für eine Pistole nicht reicht. Marie befindet sich mit mehreren Kindern auf der Straße und hört einer Großmutter zu, die eine stark abgewandte Form des Märchens vom Sterntaler erzählt als Woyzeck sie zu einem Spaziergang abholt. Er führt sie in den Wald an einen See und ersticht sie. Kinder unterhalten sich darüber, dass in der Stadt eine Leiche entdeckt wurde.
Das Märchen ist eine stark abgeänderte Version des Märchens vom Sterntaler. Es ist ein Anti-Märchen mit schlechtem Ausgang. Im Gegensatz zu dem Stück, das die Gebrüder Grimm um 1815 aufgeschrieben haben findet das Mädchen nicht zum Glück durch ihre Großherzigkeit sondern verliert sich auf der Suche nach einem Ausweg aus ihrer Einsamkeit. Beide Märchen gehen von einer fast identischen Ausgangssituation aus. Ein kleines Mädchen, ein Waisenkind zieht von zu Hause aus. Doch während das Mädchen aus dem Sterntaler sich auf den Weg macht und weiteren Armen begegnet, die schlechter dran sind als sie und mit ihnen teilt, was sie hat sucht das Mädchen aus dem Märchen der Großmutter nach einem Ort, an dem es weniger einsam ist und wird dabei in einer Tour enttäuscht. Das Sterntalermädchen wird am Ende so reich beschenkt, dass es bis ans Ende ihrer Tage reicht. Sie wird als ideales Kind, als idealer Mensch dargestellt der selbst in Zeiten der Not noch fähig ist Trost zu spenden, der selbst teilt, wenn kaum noch etwas zu teilen da ist. Die Geschichte will uns lehren, in jeder Situation selbstlos zu handeln. Das Kind aus dem anderen Märchen jedoch wird in keiner Weise idealistisch dargestellt. Es ist in seiner Natur als Kind auf der Suche nach Trost und kann ihn nirgends finden. Selbst als sie zur Erde zurück kehrt findet sie dort nur eine umgekippte Schüssel und ist weiterhin alleine.
Das Märchen spiegelt sehr stark Büchners Weltbild wider. Unter anderem erkennt man sehr eindrucksvoll die atheistische Neigung des Autors darin, dass das Kind in den weit entfernten Himmelskörpern nicht den erhofften Trost sondern nur Enttäuschung findet. Es sind nur unbrauchbare Gegenstände, von denen nichts zu erwarten ist. Überträgt man die Bedeutung des Märchens auf das ganze Drama ergibt sich daraus ein Teufelskreis mit dem Kind von Maria und Woyzeck im Mittelpunkt.
So spät schon, aber immer noch Sonntag. Ich habe heute ein bisschen zu lang für meinen Artikel gebraucht, aber immerhin weiß ich, wem ich die Schuld dafür geben kann. Übrigens habe ich Beschwerden erhalten, ich schreibe zu viele lange Artikel. Also ich persönlich dachte ja immer, das sei erwünscht, aber das Angebot richtet sich nach der Nachfrage, demnächst gibt es immer mal wieder zwischen durch etwas kürzere Artikel. Übrigens brauche ich immer noch ganz ganz viele Sätze, Definitionen, Assoziationen für meine Collage über Freundschaft.
In diesem Sinne, gute Nacht und eine schöne Woche!